Der fälschlich adressierte Brief von Walter Gropius an Gustav Mahler

Am 29. Juli 1910 erhielt einen an ihn adressierten Liebesbrief aus der Feder von (Entwurf dazu wahrscheinlich WG22 vom 27. oder 28. Juli 1910), der für Augen gedacht war. Durch diesen fälschlich adressierten Brief erfuhr von der Affäre seiner Frau mit und reagierte mit einem emotionalen Zusammenbruch, der die Beziehung des Ehepaars nachhaltig verändern sollte.

Von Anfang an stand dabei die Frage im Raum, ob diesen Brief versehentlich durch ein Missgeschick oder absichtlich an adressierte, um eine Katharsis zu provozieren. Über den verhängnisvollen Brief ihres Liebhabers schrieb in AM10 vom 31. Juli 1910: Bedenke – der Brief, in dem Du offen von den Geheimnissen unsrer Liebesnächte schreibst – war an: Herrn – Toblach – Tirol addressirt. Wolltest Du das wirklich? In Ihren späteren Lebenserinnerungen berichtete , ihr Mann „war und blieb davon überzeugt, daß X.... [= ] diesen Brief absichtlich an ihn geschickt hatte, um, wie er sagte, bei ihm um meine Hand anzuhalten“ (, S. 215f., „G.“ statt „X.“, ansonsten identischer Wortlaut im zeitlich früher zu datierenden Typoskript von Ein Leben mit , Fotokopie in , Ms. Coll. 575, Box 35, mschr. pag. 189, hschr. pag. 227). Ob diese Schilderung der Annahme so zutraf, lässt sich nicht verifizieren. Fest steht, dass selbst an den Beweggründen von zweifelte (Mein Glaube an Dich so ist so gesunken – ich weiß nicht, was geschehen wird, AM10). In einem Telegrammentwurf an bezeichnete den fälschlich an adressierten Brief als unglücklichen Zufall, strich den Passus jedoch durch (WG25 vom 1. oder 2. August 1910). Gegenüber , der ihn in den 1950er Jahren dazu befragte, beteuerte er ein Versehen (, S. 843, vgl. Anm. 83). Die Aussagen innerhalb des Briefwechsels bezüglich einer Schuld oder Unschuld von sind dabei nicht eindeutig, sondern geben Hinweise in beide Richtungen, wobei auch die Vorgeschichte der Korrespondenz eine Rolle spielt:

Für ein unabsichtliches Versenden des Briefes an spricht die Tatsache, dass ca. eine Woche vor dem Eintreffen des Schreibens in Toblach am 29. Juli gebeten hatte, Briefe an sie nicht mehr poste restante an Chiffre (A. M. 40, s. AM3 vom 18. Juli 1910), sondern direkt an ihre Freundin zu adressieren, die zu Besuch bei den Mahlers angekündigt war: Schreibe an Gräfin p.[er] A.[dresse] Dir.[ektor] [,] Toblach Tirol. So lange[,] bis ich Gegenordre gebe (AM5, wahrscheinlich vom 20. Juli 1910). In AM7 vom 24. Juli informierte von der Ankunft . Demnach hätte er in dem verhängnisvollen Brief den Zusatz Gräfin auf dem Kuvert lediglich vergessen, etwa in der Eile, wie annahm (AM11 vom 2. oder 3. August 1910).

Für ein absichtliches Adressieren an spricht hingegen eine Passage in AM10, die aus einem Brief von entnommen hat, jedoch sich in den Briefentwürfen von nicht finden lässt: Das Einzige – was mich glauben lassen könnte, dass Du die Adresse mit Absicht an Herrn geschrieben hast – ist der Passus in Deinem \heutigen/ Brief: „Hat Dein Mann noch nichts gemerkt? Schreibe mir alles aufrichtig, ich werde dich immer recht verstehen!!“ Der hier zitierte Passus wirkt tatsächlich seltsam in Anbetracht eines Missgeschicks von . Falls dieser wirklich vorhatte, durch den falsch adressierten Brief eine Entscheidung seiner Geliebten zu erzwingen, muss auch Verhalten in der vorangegangenen Korrespondenz miteinbezogen werden. Nur wenige Tage nach ihrer Abreise aus Tobelbad hatte sie am 20. Juli geschrieben: Ich liebe Dich über alle Grenzen hinaus – für immer. Wenn Du mich brauchen kannst, so hole mich — — — — — — ich bin bereit! (AM5). Ob sich durch die Aufforderung berufen fühlte, in einer romantisch-heroischen Tat Grenzen zu überschreiten, muss weiterhin offenbleiben. Der erhaltene Briefwechsel bietet keine eindeutige Aufklärung dieser Frage.